Die Unmöglichkeit des Vergessens

Ich bin zuletzt über den Dienst www.nebul.us gestolpert. nebul.us bietet die Möglichkeit eine bis dato nicht gebrauchte Datenressource anzuzapfen, nämlich die Browser-History. Während also wir Aushilfe-Paranoiden, wenn schon nicht ständig, so zumindest regelmäßig die Browserhistory gelöscht haben, setzt dieser Dienst genau dort an. Diese Daten sollen, wie alles mittlerweile, „sozial“ werden. Die Beliebtheit einer Seite wird durch die dort verbrachte Zeit interpretiert. Ein zweiter Benefit soll darin liegen, dass der User seine eigene Nutzung von Webseiten darstellen und nachvollziehen kann. Beim Lesen des Artikels über nebul.us ist mir die schon vorher skizzierte Paradoxie ins Auge gehüpft. Da haben wir Jahrzehnte lang alles getan, damit die Freundin nicht mitkriegt, dass playboy.com besucht worden ist und schlagartig sollen wir genau diese Information einem Dienst in der Cloud am Silbertablett überreichen. Aber lassen wir das Gejammer über die Privatsphäre mal außen vor.

nebul.us ist gewissermaßen ein (weiterer) Dienst wider dem Vergessen. In unserem konkreten Fall ist Vergessen das Löschen der Browser History. Eine Datenbank vergisst aber nie. Und anstatt sich Gedanken darüber zu machen, welche Nutzungsdaten noch fürs Mining verwendet werden könnten, sollten Konzepte erarbeitet werden, wie Vergessen im Internet realisiert werden könnte. Vergessen ist nämlich eine Fähigkeit des Menschen, die es ihm ermöglicht, sozial intakte Beziehung zu gestalten und psychisch gesund zu bleiben. Niemand würde Freunde haben, wenn er jeden noch so kleinen Fehltritt beim Anblick der Person erinnern würde. Niemand würde als psychisch gesund betrachtet werden, der jeden Tag die Qualen eines Trennungsschmerz erleben müsste. Vergessen macht also Sinn.

Der aus Österreich stammende Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger hielt eine Keynote zur Eröffnung der Ars Electronica im September 2007. In dieser Rede schlug er vor, Daten mit einem Ablaufdatum zu versehen. Digitale Systeme sollten gleichsam vergessen können. Des Menschen vermeintlich größte Schwäche, das Vergessen, ist eine hilfreiche Leistung. Nur wesentliche Daten werden längerfristig gespeichert. Mayer-Schönberger stellte eine Analogie zu den Mönchen des Mittelalters her, indem er die aufwändige Speicherung von Wissen in Form von Büchern als angewandte Informationsökonomie beschrieb. Nicht jedes Wissen ist also den Aufwand wert, es für die Zukunft verfügbar zu halten. Heute sind wir hingegen dort angelangt, wo die Grenzkosten einer zusätzlich gespeicherten Information gegen Null tendieren. Informationsökonomie ist von einer Frage der Machbarkeit zu einer psychologischen, sozialen und juristischen geworden. Mayer-Schönberger resümiert, dass in Ermangelung an konkreten Schritten, die ein digitales Vergessen ermöglichen, eine Stärkung der Grundrechte von Bürger notwendig sei.

Basierend auf diesen Überlegungen hat der Gründer von Ikarus Software im Oktober 2009 ein Buch mit dem klingenden Titel „Delete“ veröffentlicht. Ich bin mir nicht sicher, ob Mayer-Schönberger www.nebul.us verwenden wird…


3sat hat in einem kurzen Bericht dieses Problem ähnlich aufgegriffen. Nachzusehen unter http://wstreaming.zdf.de/zdf/veryhigh/090125_datensicherheit_nes.asx


Quellen:
http://www.techcrunch.com/2009/11/03/nebul-us-a-new-way-to-visualize-and-shar…
http://futurezone.orf.at/stories/219719